Das Wirtshaus am See

Das Wirtshaus am See

Ein Familienroman von Felicitas Frischmuth-Riedl

erschienen 2007
€ 14,30 | ISBN 978-3-9502031-6-5

Es wäre gelogen, würde ich behaupten, dass ich dieses Buch objektiv lesen hätte können. Weder damals, als es erstmals erschienen ist, noch jetzt, wo es neu aufgelegt wird, denn es ist auch meine Vorgeschichte, die da abgehandelt wird. Felicitas Frischmuth war die Schwester meines Vaters, also meine Tante, und sie war auch meine Taufpatin.

Ich bin heute um bald ein Vierteljahrhundert älter, als sie je geworden ist, und ich erinnere mich auch noch an jene Lori, von der als Kind und jungem Mädchen in diesem Buch die Rede ist. Es war die spätere Großtante Rössler aus Berchtesgaden, die stets einen weit ausladenden Hut trug und beständig mit dem Kopf wackelte. Sie kam zu den Hochzeiten und den Begräbnissen und inspizierte bei diesen Gelegenheiten uns, die Enkelgeneration, eingehend und mit Hilfe eines Lorgnons.

Der junge Michel, dessen Lebensgeschichte bis zu seinem dreißigsten Jahr das Hauptthema dieses Buches ist, war mein Großvater, der mit derselben Zerstreutheit wie einst sein Vater auf die Schulzeugnisse, die wir ihm zeigen mussten, reagierte, und mit derselben Ungerechtigkeit. Wie ich überhaupt davon ausgehe, dass meine Tante Felicitas für viele Details zur Beschreibung der Generationen vor ihr an ihrem eigenen elterlichen, großelterlichen und vor allem geschwisterlichen Umfeld Maß genommen hat. Sie war die kleine Schwester von sechs Brüdern, das bedeutete ein gerütteltes Maß an Erfahrung im Umgang mit Halbwüchsigen.

In der Figur der gütigen Kinderfrau Resi, die meinem Großvater und seinen Geschwistern rühmenswerterweise so manche Tracht Prügel erspart hat, sind wohl einige Züge ihrer eigenen Kinderfrau, der Mitzikatz, nachgezeichnet, und in der Schilderung der Streiche des jungen Michel hallen gewiss die der eigenen Brüder nach, auch die meines Vaters.

Es versteht sich, daß ich als Angehörige der nächsten Generation eine andere Sicht auf die Familie habe. Umso wichtiger ist mir der Blickwinkel meiner Tante, der mich einiges mir Unverständliche zumindest ein wenig besser begreifen läßt. Bei der neuerlichen Lektüre ist mir vor allem eines klar geworden, nämlich wie viel die Geschichte der Familie mit der des Ortes zu tun hat, und wie sehr diese Geschichte auch als bürgerliches Soziogramm zu betrachten ist. Aber gerade die Punkte, in denen dieser quasi Roman über die Familie hinauswächst, rechtfertigen seine Neuauflage.

Bei der ersten Lektüre hat mich im Hinblick auf die eigene Identitätsfindung vor allem die Geschichte der Familie interessiert, und wie diese mich in meinen Vorlieben zu bestärken und in meinen Aversionen zu bestätigen schien. Bei der jetzigen Lektüre standen das Interesse an den Zeitläufen sowie das gewachsene Bewußtsein davon, wie sehr die Umstände den Verlauf eines Lebens beeinflussen können, im Vordergrund, aber auch die Erkenntnis, wie ähnlich sich die Menschen, was ihre Grundausstattung betrifft, über Generationen hinweg geblieben sind.

Daher bin ich froh, daß dieses Buch, das man guten Gewissens als faction (im Gegensatz zu fiction) bezeichnen könnte, den nächsten Generationen nun wieder als lebendig gemachtes Stück Vergangenheit zur Verfügung steht.

Barbara Frischmuth
Altaussee, im Winter 2007